"Sprache"

Die Sonne spricht zu uns mit Licht,
mit Duft und Farbe spricht die Blume,

mit Wolken, Schnee und Regen spricht
die Luft. Es lebt im Heiligtume
der Welt ein unstillbarer Drang,
der Dinge Stummheit zu durchbrechen,
in Wort, Gebärde, Farbe, Klang,
des Seins Geheimnis auszusprechen.

Hier strömt der Künste lichter Quell,
es ringt nach Wort, nach Offenbarung,
nach Geist die Welt und kündet hell,
aus Menschenlippen ewige Erfahrung.

Nach Sprache sehnt sich alles Leben,
in Wort und Zahl, in Farbe, Linie, Ton
beschwört sich unser dumpfes Streben
und baut des Sinnes immer höhern Thron.

In einer Blume Rot und Blau,
in eines Dichters Worte wendet
nach innen sich der Schöpfung Bau.
der stets beginnt und niemals endet.

Und wo sich Wort und Ton gesellt,
wo Lied erklingt, Kunst sich entfaltet,
wird jedes Mal der Sinn der Welt,
des ganzen Daseins neu gestaltet,

und jedes Lied und jedes Buch
und jedes Bild ist ein Enthüllen,
ein neuer, tausendster Versuch,
des Lebens Einheit zu erfüllen.

In diese Einheit einzugehn
lockt euch die Dichtung, die Musik,
der Schöpfung Vielfalt zu verstehn
genügt ein einziger Spiegelblick.

Was uns Verworrenes begegnet,
wird klar und einfach im Gedicht:
Die Blume lacht, die Wolke regnet,
die Welt hat Sinn, das Stumme spricht.

Hermann Hesse
„Das Lied des Lebens – Die schönsten Gedichte“, Seite 147
Suhrkamp (2000), zusammengestellt von Volker Michels (Hrsg.)

Hymnus an die Reise

Schienen, die blauen Adern aus Eisen,
Durchrinnen die Welt, ein rauschendes Netz.
Herz, rinn mit ihnen! Raff auf dich, zu reisen,
Im Flug nur entfliehst du Gewalt und Gesetz.

Im Flug nur entfliehst du der eigenen Schwere,
Die dir dein Wesen umschränkt und erdrückt.
Wirf dich ins Weite, wirf dich ins Leere,
Nur Ferne gewinnt dich dir selber zurück!

Sieh! Bloß ein Ruck, und schon rauscht es von Flügeln,
Für dich braust eine eherne Brust,
Heimat stürzt rücklings mit Hängen und Hügeln,
ein Neues, es wird dir neuselig bewusst.

Die Grenzen zerklirren, die gläsernen Stäbe,
Sprachen, die fremden, sie eint dir der Geist.
Unendlicher Einheit, da er die Schwebe
Der vierzehn Völker Europas umkreist.

Und in dem Hinschwung von Ferne zu Fernen
Wächst Dir die Seele, verklärt sich der Blick,
So wie die Welt im Tanz zwischen Sternen
Schwingend ausruht in großer Musik.

Copyright Stefan Zweig (1924)“

„Ausgewählte Gedichte“ (1. Auflage 1931, 5. Auflage 1953),
Insel Verlag, Leipzig, Seite 29.